2017-08-08

Nach dem Räumen das grosse Rechnen

Nach dem Unwetter in der Nacht auf den 2. August ist das grosse Aufräumen im Gange. Die Experten der Hagelversicherung müssen bald die Schäden beziffern.

Beim Sonnenblumenfeld gibt es nichts mehr zu ernten, nur noch zu schätzen. (Bild Mark Gasser)

Der extreme Gewittersturm mit massivem Hagel, Regen und Windsturm hat im Weinland zwischen dem Rhein und dem Stammertal Schäden an Liegenschaften, in Gärten, an landwirtschaftlichen Kulturen, im Wald und an Infrastrukturen von einem grösseren zweistelligen Millionenbetrag verursacht. Überall wird intensiv auf- und abgeräumt, geflickt oder notdürftig abgedeckt, überschwemmte Keller werden getrocknet. Derweil ist der Forst gefordert, die vielen Zufahrten in den Wald freizumachen. Zum vielen Sturmholz im Wald sind auch Hunderte von Feldobstbäumen und auffallend viele Nussbäume durch die Wucht des Sturms entwurzelt worden. Im Gegensatz zum vom Borkenkäfer befallenen Holz ist das Sturmholz praktisch unbrauchbar – dieses gibt noch Spanplatten oder Brennholz her.

Ausserhalb des Forsts sind die grössten Aufräumarbeiten vorbei. «Ich war erstaunt, wie schnell sich das Bild zwischen dem 2. und dem 3. August veränderte», erklärt Thomas Schaller, Kommandant Zivilschutz Weinland. Allein Letztere leisteten im Stammertal innert zwei Tagen über 600 Stunden, Tausende von Stunden absolvierten diverse Feuerwehren in den betroffenen Dörfern.

Besonders schlimm sieht es aber noch in landwirtschaftlichen Kulturen aus. Zerfetzte Maispflanzen und Zuckerrübenfelder, geknickte oder abgeschlagene Sonnenblumenfelder und arg zusammengeschlagene Kartoffelfelder sind nicht übersehbar. Auch das Freilandgemüse inklusive Feldgemüsearten wie Bohnen, das Kraut der Zwiebeln oder Karotten ist zerhackt – dasselbe Bild bei den Kürbissen.

Massive Ausfälle bei Obst und Reben
Auch die Reblagen zeigen ein Bild der Zerstörung. Rebbaukommissär Andreas Wirth hat eine erste Zusammenstellung der Hagelunwetter vom 1. und 2. August für den Zürcher Weinbau erstellt. Bereits am Abend des Nationalfeiertages zog eine mit Hagel beladene Gewitterzelle über Winterthur hinweg und sorgte für Schäden an den Reben in der Region in und um Winterthur. Die zweite, viel grössere und heftigere Front am frühen Morgen des 2. August führte schwerpunktmässig im Rafzerfeld in Rafz und Wil zu mittleren bis stärken Schäden; etwas geringere Schäden gab es in Dachsen, Laufen-­Uhwiesen, Wildensbuch und Trüllikon und «grosses bis sehr grosses Schadenpotenzial» in Benken, Rudolfingen, Truttikon und in allen Lagen des Stammertals. Rund 150 Hektaren oder rund 25 Prozent der gesamten Zürcher Rebfläche dürften in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Eine exakte Bezifferung des Ausmasses beim Ertragsausfall inklusive Frühlingsfrost sei aber erst nach der Lese möglich. Ausserhalb des Kantons Zürich sind grössere Schäden aus dem Thurgau (Mammern, Arenenberg und Steckborn) sowie aus dem Klettgau gemeldet worden.

Im Obstbau sind viele Früchte abgeschlagen oder durch Hagelkörner angeschlagen, sodass an eine Ernte nur noch bedingt oder gar nicht zu denken ist. Auch die Futterwiesen haben teilweise arg gelitten. Um wieder rasch ein Nachwachsen zu erreichen, sind viele kurzfristig gemäht und das zerschlagene Futter konserviert worden.

Hier kommt die (freiwillige) Hagelversicherung zum Zuge. Doch viele Landwirte verzichten darauf. So dürfte die von der Hagelversicherung geschätzte Bilanz von schweizweit rund 700 Schadenmeldungen und einer Schadensumme von vier Millionen Franken gut und gerne das Doppelte betragen.

Schätzer treten in Aktion
Um die Schäden der versicherten Kulturen abzuschätzen, sind in den nächsten Tagen mehrere Dutzend Experten in Zweierteams unterwegs. Sie schätzen die Schäden in jeder versicherten Parzelle vorerst provisorisch ab und nehmen sie mithilfe von Angaben auf den Schadenformularen vor Ort in ihre Tablets auf. Denn seit drei Jahren arbeitet die Hagelversicherung papierlos. Kurz vor der Ernte erfolgt dann die definitive Abschätzung – sofern nicht bereits vorher ein Totalschaden augenscheinlich ist.

Die durch den Hagel und den Sturmwind verursachten Schäden an Gebäuden aller Art sind im Gegensatz zu den landwirtschaftlichen Kulturen obligatorisch bei der Gebäudeversicherung des Kantons Zürich versichert. In Gewitter- und Hagelsturmfällen sind Objekte allerdings nur gedeckt, sofern Windböen von über 100 km/h verzeichnet worden sind oder ein zehnminütiges Sturmmittel von 63 km/h erreicht wurde.

(Quelle: Schaffhauser Nachrichten, Roland Müller und Mark Gasser)




Hagel und Sturm verursachten vor allem in den Kantonen Bern, Schaffhausen, Thurgau (Untersee) und Zürich (Zürcher Weinland und Winterthur) Schäden in der Landwirtschaft. Betroffen sind vor allem Wein, Gemüse, Ackerkulturen (Mais, Kartoffeln, Zuckerrüben) und Obst. Die Schweizer Hagel Versicherung erwartet rund 700 Schadensmeldungen mit bis zu 4 Millionen Franken versicherte Schäden in der Landwirtschaft.




«Bäume knickten um, als wären sie Streichhölzer»

Der Norden des Kantons Zürich ist in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch von einem heftigen Unwetter, einer «Superzelle», heimgesucht worden. In Winterthur und Umgebung hat Hagelschlag Millionenschäden angerichtet.

Hagelkörner erreichten zwei bis drei Zentimeter Durchmesser (Bild zvg, Willy Zweifel, Leserreporter)

Ernst Pletscher lag im Bett, als das Unwetter mit voller Wucht über seinen Hof hereinbrach. Der Wind wirbelte Dachziegel durch die Luft, drückte Fenster ein, und vor seinem Haus in Guntalingen brachen Bäume gleich mitsamt ihren Wurzeln aus dem Boden. Oder sie knickten einfach um, als wären sie Streichhölzer. «Es hat gehagelt und gepfiffen», sagt Pletscher. «Überall war Wasser. Es war wie in einem Hurrikan.»

Es müssen gewaltige Böen ­gewesen sein, die in der Nacht auf Mittwoch über das Stammertal hinweggefegt sind. Vereinzelt hat es nicht nur Ziegel von Häusern geblasen, sondern gleich das ganze Dach. Ein trauriger Anblick sind komplett zerfetzte Felder oder Weinreben.

Auf dem Hof von Ernst Pletscher liegen zudem zwei tote Kühe zum Abholen bereit. Sie hatten am Waldrand Schutz gesucht und wurden von umstürzenden Bäumen getroffen. Er habe geweint, als er die Schäden gesehen habe, sagt der 57-jährige Landwirt am Tag danach. Um das Ausmass zu demonstrieren, zeigt er mit einem Finger den Hang hinauf und sagt: «Das dort war mal ein Wald.» Jetzt ist nur noch ein Durcheinander von abgebrochenen Ästen und Blättern zu sehen.

Winzer trifft es wieder hart
Erstaunlich ist, dass andere Höfe in der Umgebung je nach Himmelsrichtung deutlich weniger betroffen sind. Der Sturm hat eine relativ schmale Schneise der Verwüstung durch das Weinland gezogen. Die Schäden sind dennoch gravierend. Die Gebäudeversicherung Kanton Zürich geht im Gebiet Marthalen, Ossingen und Stammertal von einer Schadensumme von bis zu zehn Millionen Franken aus.

Mit besonderer Gewalt hat es Höfe auf der weiten Ebene des Stammertals erwischt. Heftige Windböen haben eine Tabakscheune in Einzelteile zerlegt. Äusserst bitter ist die Situation von Kari Keller aus Waltalingen. Einem Teil seiner Weinreben fehlen sämtliche Blätter, nur noch nackte Äste recken sich in den Himmel. Den Frost im Frühling hat der Familienbetrieb mit grossem Aufwand noch überstanden, wie der Winzer sagt. «Nun haben wir wohl doch einen Totalschaden.» Keller versucht trotzdem zu retten, was zu retten ist. Glücklicherweise hätten sie noch genügend Wein gelagert, um die Kundschaft weiter zu bedienen.

Feuerwehr musste warten
Die örtlichen Feuerwehren waren im Dauereinsatz. Heiner Wipf, Kommandant der Feuerwehr Weinland, wurde kurz nach ein Uhr nachts alarmiert. Er konnte zuerst allerdings nicht ausrücken. Es hagelte so stark, dass er erst nach kurzem Abwarten aus dem Haus konnte. «Die Strasse war eine Wasserbahn», sagt der 56-Jährige. Er sei seit 36 Jahren bei der Feuerwehr, solchen Hagel habe er aber noch nie erlebt. Selbst beim Feuerwehr­depot hätten schräg fliegende Körner Scheiben zerschlagen.

Bis Mittwochabend seien sie mit Aufräumarbeiten beschäftigt ge­wesen. Bäume mussten weg­geräumt, Keller ausgepumpt werden. Von unzähligen Schadenmeldungen spricht Andreas Frei. Er ist Kommandant der Feuerwehr Stammertal. «Der Sturm war für uns ein Extremereignis», sagt er. Unzählige Häuser seien beschädigt worden. Glücklicherweise habe es ab­ge­sehen von kleineren Vorfällen ­jedoch keine Verletzten gegeben.

Autos beschädigt
Die Hagelkörner waren so gross, dass Autos beschädigt wurden. Bei der Carrosserie Gehrig in Kleinandelfingen klingelte das Telefon fast ununterbrochen. «Wir haben etwa 250 Anmeldungen von Autos erhalten, die durch die Hagelstürme leichte bis ex­treme Schäden aufweisen», sagt Kundendienstberater Elmedin Murati. «Bei extremen Schäden müssen wir ganze Motorhauben ersetzen. Bei einzelnen Autos sind gar die Windschutzscheiben zertrümmert.» Manche Landwirte konnten ihre Schäden noch nicht beziffern. Die Behörden im Stammertal planen für Donnerstag eine Medienkonferenz.

Schäden auch im Rafzerfeld
«Ein so heftiges Gewitter habe ich noch nie erlebt», be­stätigte auch Reto Pauli, Leiter des Gartencenters Hauenstein in Rafz. Im Gartencenter haben Sturm und Hagel eine Vielzahl von Pflanzen verwüstet. Sträucher und Bäume wurden regelrecht entlaubt. Nicht nur das Gartencenter der Hauensteins, auch die Baumschule wurde in Mitleidenschaft gezogen. Einige Alleebäume sind nicht mehr zu retten.
Den Schaden kann man zum jetzigen Zeitpunkt weder im Gartencenter noch in der Baumschule genau beziffern. «Erst müssen wir aufräumen und alles ana­lysieren», sagt Pauli. Frühestens in zwei Wochen könne Bilanz ­gezogen werden.

Verlust von 250 Tonnen Kürbis
In Rafz hat die Superzelle neben dem Gartencenter Hauenstein auch den Kürbisfeldern der ­Jucker-Farm übel mitgespielt. Wie es in einer Mitteilung heisst, muss auf einem Viertel der gesamten Kürbisanbaufläche – rund zehn Hektaren – mit einem Totalschaden gerechnet werden. Walter Pfister, Produktionsleiter des Spargelhofs, rechnet mit einem Verlust von etwa 250 ­Tonnen Kürbis. Auf weiteren rund fünf Hektaren rechnet er mit reduziertem Ertrag, da die Früchte zwar intakt, die Pflanzen jedoch beschädigt sind.
Betroffen sind die Sorten Butternuss (vier Hektaren), Zierkürbis (eine Hektare), Halloweenkürbis (zwei Hektaren) und Kürbisse für die Kürbisausstellung (drei Hekt­aren). Das grösste Problem sei der Verlust der Ausstellungskürbisse, weil bereits am 1. September die Kürbisausstellung startet. Die Ernte hätte am 7. August beginnen sollen. «Die Ausstellung wird trotzdem wie geplant stattfinden, es ist nur noch etwas mehr Kreativität von allen Mitarbeitern gefragt», heisst es weiter.
Die Superzelle hat vor allem den Norden des Rafzerfeldes heim­gesucht, der Süden blieb weit­gehend verschont. Zumindest ging bei der Feuerwehr Eglisau-Hüntwangen-Wasterkingen kein Alarm ein. Hingegen hatten die Feuerwehrleute der Feuerwehr Rafz-Wil wegen der Superzelle eine kurze Nacht. «Der Alarm ging um 2.27 Uhr ein», sagte Kommandant Alex Schweizer. Der Grund des Einsatzes: In Wil musste der vollgelaufene Keller eines Gebäudes ausgepumpt werden. Ebenfalls ein Einsatz stand bei der Feuerwehr Buchberg-Rüdlingen an. Wie Kommandant Andreas Gehring sagte, musste auf der Strasse zwischen Rafz und Rüdlingen ein Baum aus dem Weg geschafft werden.

170 km/h in Marthalen
Verantwortlich für die Schäden war eine besonders starke Gewitterzelle, eine sogenannte Superzelle (siehe Infobox). Das Unwetter zog demnach zwischen 2 und 3 Uhr nachts über den Norden des Kantons Zürich. Es brachte Hagel, Starkregen und vor allem extreme Windböen.
Der Pfad des Gewitters lässt sich anhand von Radardaten und Messwerten von Wetterstationen gut rekonstruieren. So wütete die Superzelle zuerst im deutschen Rickenbach bei Waldshut. Dort stürzte um etwa 2 Uhr wegen der Orkanböen ein Baum auf ein Zelt, in dem mehrere Jugendliche die Nacht verbringen wollten. Ein 15-Jähriger kam dabei ums Leben, drei weitere Jugendliche wurden teils schwer verletzt.
Die unweit vom Unfallort entfernte Wetterstation des AKWs Leibstadt mass zum Zeitpunkt des Vorfalls eine Orkanböe von 134 km/h.
In der Folge zog das Gewitter dem Rhein entlang und überquerte dann das Rafzerfeld. Im Bezirk Andelfingen erreichte die Superzelle dann vermutlich ihre maximale Stärke. Wie der Wetterdienst Meteonews mitteilt, wurde in Marthalen um 2:30 Uhr eine Orkanböe von 170 km/h gemessen.
In der Folge zog das Unwetter über das Grenzgebiet Zürich/Thurgau zum Bodensee weiter. Auch im Thurgau richtete die Zelle noch Schäden an.
Die Wetterdienste hatten bereits am Montag davor gewarnt, dass am Abend des Nationalfeiertages eine Unwetterlage droht. Allerdings war es – wie so oft bei Gewittern – nicht möglich genauere Angaben über Zeitpunkt und Ort der Unwetter abzugeben.

(Quelle: Zürcher Unterländer, Rafael Rohner, Thomas Münzel, Martin Steinegger, Alexander Lanner)


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