Aarauer Winzer beklagen wegen Missbildungen einen massiven Ernteausfall im Rebberg. Schuld sein dürfte ein Pflanzenschutzmittel des Chemiekonzerns Bayer. Der Branchenverband Aargauer Wein will nun wegen einer Entschädigung klagen – aber nicht nur.
Ein schöneres Thema an diesem heissen Sommertag wäre Präsident Peter Wehrli vom Branchenverband Aargauer Wein lieber gewesen. So aber mussten sich zwei Dutzend Winzer an der Krisensitzung im Gasthaus Schützen in Aarau mit Moon Privilege befassen. Diese Bezeichnung droht zum Schreckgespenst einer ganzen Branche zu werden.
Für die Rebbauern ist der Zusammenhang zwischen dem Pflanzenschutzmittel des Chemiekonzerns Bayer und den teils verkrüppelten Trauben und Blätter offensichtlich. Bayer selber hat die Rebbauern aufgefordert, Moon Privilege nicht mehr einzusetzen. Das Verhalten des Konzerns «sieht aus meiner persönlichen Sicht wie ein Schuldeingeständnis aus», so Peter Rey, Leiter der Fachstelle Weinbau.
Ersatz aller Schäden verlangen
Die Weinbauern haben nichts falsch gemacht, im Gegenteil: Das Pflanzenschutzmittel ist von Agroscope vom Bundesamt für Landwirtschaft offiziell bewilligt worden. Doch der Bund will sich jetzt aus der Verantwortung ziehen. Verwendet wurde es in der ganzen Schweiz, in Oesterreich, Südtirol und teils Süddeutschland.
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Von überall kommen die gleichen Meldungen: Abgerundete Blätter und verklebte Blüten, Beeren und Trauben können sich nicht entwickeln. Alle Aargauer Weinbauern werden aufgerufen, die Schäden auch mit Bildern selber genau zu dokumentieren. Das könne in einem absehbaren Gerichtsfall zum wichtigen Beweismittel werden.
Der Verband will mit Hilfe namhafter Juristen und gemeinsam mit den anderen Weinbau-Kantonen eine Art Sammelklage gegen Bayer einreichen. Die Aargauer wollen Druck machen, damit sich der Deutschschweizer Verband rasch und erfolgreich für die geschädigten Winzer einsetzt.
Bei der Klage geht es nicht nur um die Entschädigung für den Ausfall der Trauben und den fehlenden Weinverkauf. «Es ist denkbar, dass es im nächsten Jahr noch schlimmer kommt», sagt Geschäftsführer Pascal Furer vom Aargauer Verband. Bayer hat vereinzelt bereits die Aufnahme «durch neutrale Schadenexperten» angekündigt. Die Rebbauern wurden davor gewarnt, zu unterschreiben, wenn sie auch die – noch völlig unklaren – Folgeschäden abgedeckt haben wollen.
Grössenordnung noch unklar
Weil jeder Rebbauer selber den Schaden zuerst abklären muss, ist es für eine kantonale Übersicht viel zu früh. Anfang Juni hat Peter Rey erstmals von Problemen gehört, 15 Winzer meldeten auf ein Mail hin Mitte Juni erste Schäden. Allerdings mit enormen Unterschieden, je nach Traubensorten.
Bei Malbec und Merlot beträgt der Ausfall oft 100 Prozent, Cabernet gelten als sehr anfällig, anderseits zeigen Riesling-Kreuzungen wenig Krankheitssymptome. Unter dem Strich befürchten Weinbaubetriebe eine um 50 Prozent geringere Ernte – und damit einen Weinmangel ab nächstem Jahr. «Die Schäden sind schlimmer als jene durch die Kirschessigfliege im letzten Herbst», lautet ein erstes Fazit von Rebbaukommissär Rey.
«Auf Empfehlung von Agroscope habe ich Moon Privilege eingesetzt, insgesamt auf 17 Hektaren.» Das betont Andreas Meier vom Weinbauunternehmen in Würenlingen, das auch in Döttingen und Klingnau in eigenen und fremden Rebbergen das Spritzen besorgt. «Wir haben vor allem Schäden bei den Spezialitäten», erklärt Weinbau-Präsident Peter Wehrli aus Küttigen.
Die eher triste Situation kontrastiert auffällig zum guten Wetter. Dank diesem gibt es auch Lichtblicke: In den Rebbergen ohne Moon Privilege ist die Lage hervorragend, geprägt von ungestümem Wachstum und gesunden Trauben. Zudem sind die Aargauer Hauptsorten Riesling-Sylvaner und Pinot Noir teils überhaupt nicht, teils weniger stark betroffen. Und die Hitze macht der Kirschessigfliege den Garaus, viel Sonne und über 30 Grad mag dieser böse Schädling überhaupt nicht.
(Quelle: az/Hans Lüthi)
Das Echo auf die Beträge in der «Aargauer Zeitung» war gross. Sibylle Egloff fasst in der Ausgabe vom 11. Juli wie folgt zusammen:
Wegen des Einsatzes des Spritzmittels «Moon Privilege» müssen Aargauer Winzer Ernteausfälle hinnehmen. Für den Einsatz ernten sie auch Kritik – der Bio-Anbau wäre von Vorteil. Doch ist dem wirklich so?
Hätten die verheerenden Schäden an den Rebstöcken im Wettinger Rebberg und die Verluste für die Weinbauern in der Region und im ganzen Land verhindert werden können? Wäre das Spritzmittel «Moon Privilege» von Bayer gegen Pilzbefall nicht eingesetzt worden, müssten die Winzer nun nicht um ihre Existenz fürchten.
Dieser Ansicht sind einige Leser, die in Kommentaren und Reaktionen auf die Berichte zu den Missbildungen der Reben und dem Ernteausfall, den Weinbauern vorwerfen, zu sehr auf chemische Produkte zu setzen.
Ein Leser empfindet kein Mitleid für die Winzer, die ihre Rebstöcke mit Chemikalien «vollpumpen» und sich dann über das Absterben der Pflanzen wundern würden. Zu Wort meldeten sich zudem ein paar Leser, die für den biologischen Weinbau plädieren und zu natürlichen Methoden gegen Pilzbefall und Schädlinge aufrufen.
Sind die Winzer tatsächlich selbst schuld an der Misere? Roland Michel, Präsident der Weinbaugenossenschaft Wettingen, ist da anderer Meinung: «Die Aussagen der Leser stimmen nicht ganz. Die Wettinger Rebbauern setzen auf die integrierte Produktion, die sehr naturnah ist und strengen Vorlagen untersteht. Spritzmittel werden nur in kleinsten Dosierungen und nur wenn nötig eingesetzt.»
Die integrierte Produktion (IP) unterscheide sich laut Michel vom biologischen Weinbau dadurch, dass synthetische Spritzmittel verwendet würden, diese aber in viel geringerem Umfang als natürliche biologische Pestizide und Fungizide.
Weinbau nicht ohne Spritzmittel
Der Vorwurf, dass Weinbauern die Reben mit Chemikalien zuschütten, kann laut Michel zurückgewiesen werden: «Jeder Winzer liebt seine Rebstöcke und setzt nicht übermässig Pflanzenschutzmittel ein.»
Die integrierte Produktion orientiert sich am Motto: So wenig wie möglich und so viel wie nötig. Michel gibt aber auch zu, dass der Weinbau nicht ohne Spritzmittel auskommt. «Aufgrund der Beschaffenheit des Bodens gedeihen die Trauben sehr schlecht ohne den Einsatz von Produkten.»
Andreas Meier, Weinbauingenieur, Önologe und Inhaber des Weinguts zum Sternen in Würenlingen, der von den Missbildungen ebenso betroffen ist, fügt hinzu, dass die Pilzkrankheiten der Rebe, der «Echte Mehltau» und der «Falsche Mehltau», die vor etwas mehr als 100 Jahren aus Amerika eingeschleppt worden seien, mit Pflanzenschutzmitteln abgewehrt werden müssten.
Das Mittel wäre verträglich
Er hegt keinen Groll auf das Fungizid: «‹Moon Privilege› wäre ein intelligentes, modernes und verträgliches Mittel, das keine Belastung für Natur und Konsument darstellt. Eingesetzt wird es weiterhin für Obst, Beeren oder beispielsweise Erbsen. Nur die Rebe scheint es rätselhafterweise nicht zu vertragen», sagt Meier.
Der Kritik der Leser entgegnet Meier mit der Tatsache, dass die Winzer nichts Verbotenes gemacht, sondern ein Pflanzenschutzmittel verwendet hätten, welches vom Bundesamt für Landwirtschaft getestet und zugelassen und von Agroscope autorisiert wurde.
«Die Verformung und die Auswirkungen führen nicht nur zu einem Image-Schaden für Bayer, sondern auch der IP-Landwirtschaft», sagt Meier. Die Abwehrhaltung gegenüber der integrierten Produktion und das Bauchgefühl der Konsumenten, bio sei besser, sei durch diesen Vorfall gestärkt worden.
Die Bio-Weinproduktion sei laut Meier jedoch auch nicht das Gelbe vom Ei: «Der Einsatz von biologischen Mitteln ist nicht nachhaltig. Bei «Echtem» und «Falschem Mehltau» werden Schwefel- und Kupferpräparate eingesetzt, welche den Boden belasten und beim Spritzen für die Atemwege ungesund sind und die Haut reizen. Synthetische Spritzmittel sind oftmals verträglicher und schneller abgebaut.»
Ob bio oder nicht, dem Konsumenten sollte bewusst sein, dass alle Nutzpflanzen, so auch die Reben, keine Wild-, sondern Kulturpflanzen sind und entsprechende Pflege und auch Pflanzenschutzmittel brauchen.
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